Holzschnitzkunst
Wie auch in anderen europäischen Berggebieten (Oberammergau, Berchtesgaden, Odenwald Erzgebirge und Meiringen) wurde auch in Gröden bereits im frühen Mittelalter mit der Holzverarbeitung begonnen. Waren es anfangs gedrechselte Käseschüsseln und dergleichen, ging man bald dazu über auch andere Gebrauchsgüter und kunstvolle Gegenstände herzustellen. Beispiele davon sind noch heute im Grödner Heimatmuseum in St. Ulrich ausgestellt.
Der erste nachweisbare Bildhauer im Grödnertal war Christian Trebinger um 1615. Ebenfalls aus dieser Zeit stammt Melchior Vinazer, welcher bei Meister Worath in Brixen die Bildhauerei erlernte und von diesem am 22. Mai 1650 den Meisterbrief erhielt. Vier, vielleicht sogar sechs seiner Söhne wurden Bildhauer. Die bekanntesten sind Domenikus und Martin, die in Wien, Venedig und Rom ihre Ausbildung machten und deren Werke in Kirchen und Museen des gesamten Alpenraumes zu finden sind. Martin war es auch, der für die Grödner Holzschnitzer die ersten Modelle fertigte, die dann immer wieder mit mehr oder weniger Geschick nachgeschnitzt wurden: ein erstes Beispiel der schon lange üblichen Vorgangsweise Nachbildungen nach einem Künstleroriginal anzufertigen.
Auf Grund der Lehrtätigkeit der Vinazer breitete sich in wenigen Jahrzehnten die Schnitzkunst derart aus, dass es in Gröden bereits im Jahre 1700 an die 50 Bildhauer gab.
Eine bezeichnende Episode der Beliebtheit der Grödner Holzarbeiten ist aus dem Jahre 1877 überliefert. Raubbau und Holzdiebstahl hatten den Raschötzer Wald oberhalb St. Ulrichs, einem nordseitig gelegenen Bannwald, derart dezimiert, dass die Regierung in Wien ein Dekret erließ um die Anzahl der Holzbildhauer und Schnitzer von 300 auf 150 Personen zu reduzieren.
Der Gemeinderat von St. Ulrich beschloss daraufhin in einer Dringlichkeitssitzung besondere Schutzmaßnahmen für den Raschötzer Wald, worauf das Dekret von der Regierung in Wien wieder rückgängig gemacht wurde: wohl eines der ersten historisch bekannten Beispiele behördlich angeordneten Umweltschutzes.
Um 1800 waren gut zwei Drittel der Grödner Bevölkerung mit der Bildhauerei oder dem Holzkunsthandwerk beschäftigt. An Stelle von Almkäse, Loden und Spitzen waren es nun Holzschnitzereien die von Gröden aus in die ganze Welt geliefert wurden. Die Erzeugnisse jener Zeit setzten sich sowohl aus kirchlichen Arbeiten als auch aus Uhrenständern, Holzpuppen und Spielwaren zusammen.
In den Anfängen erfolgte der Vertrieb fast ausschließlich über den Wanderhandel. Besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zogen viele Grödner mit ihren „Kraxen“ quer durch Europa und insbesondere durch die Mittelmeerländer, deren romanische Sprachen ihrem Rätoromanisch am ähnlichsten waren.
Im Jahr 1864 gab es in den verschiedensten europäischen Ländern bereits über 100 Grödner Niederlassungen, und in den meisten Fällen überließen die Gründer diese Firmen ihren Nachkommen und kehrten im Alter wohlhabend und angesehen in ihre Heimat zurück.
Als mit dem Aufkommen der Eisenbahn der Direktversand möglich wurde, wurden viele dieser Niederlassungen wieder aufgelassen. Diese Entwicklung brachte der Grödner Holzschnitzerei allerdings nicht nur neuen Aufschwung, sondern auch manch soziale Nachteile: Immer öfter kopierten allzu geschäftstüchtige Grödner Unternehmer sich gegenseitig ihre Modelle und es entstanden erbitterte Konkurrenzkämpfe, deren Folgen sowohl Qualitätsverlust al auch geminderte Einkommen für Heimarbeiter mit sich brachten. Daraus resultierend suchten immer mehr Künstler und Handwerker ihr Glück in der Selbständigkeit und brachten damit wieder neuen Aufschwung ins Tal.
Während die Bildhauer in Gröden hauptsächlich damit beschäftig waren Altäre, Statuen und Kircheneinrichtungen herzustellen und in alle Welt zu verkaufen, schnitzten die Heimarbeiter vornehmlich Spielzeug. Dabei spielten insbesondere Gliederpuppen, Pferdchen und bewegliche Tiere und Figuren eine große Rolle. Bald wurden diese Erzeugnisse in so großen Mengen und minderer Qualität hergestellt, dass bei den Lieferungen der Heimarbeiter gar nicht mehr gezählt sondern nur mehr gewogen wurden. Die Gliederpuppen wurden hauptsächlich nach England exportiert, wo man sie bekleidet und als „Dutch Dolls“ in die USA weiterverkaufte.
von Edmund Dellago – ©ANRI